Grigol Robakidse

Stalin als Ahrimanische Macht

Aus „Dämon und Mythos, eine magische Bildfolge“, Diederichs Verlag, Jena, 1935



Lenin hatte für Stalin den Namen ,,sagenhafter Georgier" geprägt. Das Sagenhafte in Stalin ist im Obermaß vorhanden, das Georgische jedoch nur dürftig. In Georgien erklärt man die Eigenart von Stalins Charakter durch seine Herkunft: sein Vater stamme aus Owssen. Möglich, daß man es hier mit einem andern Phänomen zu tun hat. Jedes Volk gebiert in seinem Schoß auch das Fremde, sogar auch das gegen es selbst gerichtete. Dies muß ein biologisches Geheimnis sein: vielleicht muß man fähig sein, das Fremde zu gebären, um das Andersrassige zu besiegen. Stalin ist Georgier nur insoweit, als er der Gegenpol Georgiens ist.

Der steingewordene Kopf einer prähistorischen Echse: diese Bezeichnung hat ihm einer seiner ehemaligen Mitarbeiter gegeben. Er ahnte sicher selber nicht, wie sehr er den Kern der Sache getroffen hat. Die enge, zurückweichende, wenig entwickelte Stirn: ein Vorteil vielleicht für einen Tatrnenschen, ganz besonders dann, wenn er ein unerschöpfliches Rückgrathirn hat. Stalins Rückgrat aber ist auch denkerisch stark: er hat den Spürsinn des Reptils. Im Kindesalter hatte er Pocken gehabt, und kaum merkliche Narben betonen das Prähistorische des Kopfes — ebenso die Sommersprossen, die seine Gesichtsfarbe dem Perlhuhn ähnlich machen. Unter dem Schnurrbart verbirgt sich Ironie, Hohn, als wolle er sagen: Ich vermute schon, was du verheimlichen willst. Diese stillschweigende Feststellung wird durch die hochgezogene linke Augenbraue unterstrichen - merkwürdig: bei Lenin war es die rechte. Die verkniffenen, kleinen, undurchsichtigen Augen blicken starr, lauernd. In seinem ganzen Wesen ist das kalte Blut eines unheilschwangeren Wesens zu spüren, das alles überlistet. Vor seinem Blick zerrinnt jeder Wille.

Stalins Schritte waren immer katzenartig, langsam, weich, als wolle er sich vor etwas verstecken oder jemanden verstohlen überfallen. Der geheime Zauber, der unsichtbar machen kann, ist kein Märchen — in Tibet ist er eine Realität. Ein Tibetaner, der nicht aufzufallen wünscht, macht sich unsichtbar : mit einer ungeheuren Willensanspannung verkriecht er sich in seiner eigenen Schale und vermindert damit die sichtbarnachenden Elemente. So einer war auch Stalin, schon zu jener Zeit, da er noch als Revolutionär von der Ochrana verfolgt wurde. Wie ein Mondsüchtiger lief er durch die Straßen, spähte in alle Ecken. Wenn man ihn bemerkte, so erschrak nicht der Mondsüchtige, sondem der Begegnende, der statt einer Realität ein Gespenst zu sehen glaubte. Es war keine Person, es war mehr eine Maske. Nicht nur der Illegalität halber trug Stalin so viele Decknamen: für ihn waren es, wie für Stendhal, wirkliche Namen. Im Namen erfaßt man die Person, so dachten die alten Ägypter. Stalin wechselte fortwährend die Namen: so war er Ne zu fassen und zu greifen. Und wenn er verhaftet wurde, entglitt er geschickt den Ergreifen. Er hat viele Gefängnisse durchwandert, in Batum, Tiflis, Baku, in Zentraldland und in Sibinen - er ist oft aus den Gefängnissen entkommen. Mehrfach wurde er verbannt - er entkam immer wieder und tauchte an einer anderen Stelle unter neuem Namen, neuer Maske auf. Greifbare Spuren ließ er nirgends zurück. Plötzlich trat er irgendwo hervor, ein namenloser Wanderer, dem Golem gleich, der nach der hebräischen Oberlieferung alle 30 Jahre das Weltall heimsucht: man erschrickt bei der Begegnung — kommt man zu sich, so sieht man ihn nicht mehr.

Stalin häutete sich wie die Schlange und machte damit sein inneres Wesen unantastbar. Er hatte aber noch andere Mittel der Abwehr: die Wirklichkeit verächtlich zu machen. Einmal itn Gefängnis zu Baku wurden die politischen Gefangenen gezwungen, durch die Gasse der auf sie einschlagenden Soldaten Spießruten zu laufen. Auch Stalin ging dieselbe Gasse — aber wie ? In der Hand eine Broschüre, sicher eine marxistische, schritt er und las, als ginge ihn die Sache nichts an. Er machte die Peiniger lächerlich und schützte seine Person vor moralischer Verletzung. Hier hatte er schon sein wahres Element gefunden.

Wer war dieser Anonyme? Sein Vater war ein Schuster gewesen, ein Trunkenbold, gehässig und brutal. Seine Mutter— eine Näherin, sanft, demütig, mildtätig. Der Vater schlug die Mutter, wem er betrunken war. Er schlug auch seinen einzigen, kleinen Sohn. In der Wohnhütte herrschte Elend, Speichel des Tobsüchtigen und Tränen. Schon bei dem Gedanken an die Ankunft des Vaters zitterte der Sohn an allen Gliedern. In der Schöpfung selbst sah er nur Häßlichkeit, und der Vater erschien ihm als Scheusal. Diese Zerstörung der Familienbande lastete verhängnisvoll auf dem Herzen des Kindes. Der Orient weiß, was Vater bedeutet: er ist der Samen, der kosmisch befruchtet. Wenn man die Keimzelle eines Frosches in zwei Teile schneidet, so entstehen daraus zwei Frösche. Jeder der beiden Teile wird nicht zu einem halben, sondern zu einem halbgrokn, ganzen Frosch. Die Biologie bestätigt hier unvergleichlich den morgenländischen Vatersinn. Aus einer Keimzelle werden zwei geboren, aber was geschieht mit der ursprünglichen, zur Schöpfung bestimmten? Sie ist nicht Fleisch geworden, physisch existiert sie nicht mehr - aber metaphysisch lebt sie weiter in den zwei kleinen Fröschen: jeder von ihnen trägt: in sich ihn, den Nicht-Geborenen. Hier lebt das Stammesgedächtnis an den Vater. Wo diese Erinnerung stirbt, da wird das Leben gefährdet.

Im Hause Stalins ist diese Erinnerung zerst6rt worden. Der Sohn verdammte den Vater, den Samen, haßte erbittert die Schöpfung selbst. Es gab für ihn keine Liebe, es gab für ihn keine Freude mehr. Der Lebensstoff wurde vergiftet durch den untilgbaren Haß gegen den Vater.

So einem Vaterlosen — wenn er es mystisch nicht überwindet - fehlt immer von vornherein etwas Wesentliches: die Freude am Leben. Nichts macht ihn froh. Sein Herz kann sich nicht kosmisch bis ins Tiefste öffnen. Es ist nicht der flammende, fleischgewordene Teil des mystisch zerrissenen Gottes: es ist kalt, hart, rauh. Für einen Menschen dieses Geblütes gibt es keine Ekstase. Wenn ein solcher Vaterloser Beethovens Neunte hörte, besonders das Ende, wo in das wogende Orchester die Stimmen der Menschen hineinbrechen, Stimmen der von Dionysos trunkenen Menschen, Stimmen, welche das andere Leben, das neue, das menschliche oder übermenschliche offenbaren, er würde trotzdem nicht seine eigene, engste Schale sprengen, um damit der uferlosen Wirklichkeit teilhaftig zu werden. Er würde kalt bleiben, hart, rauh. Selber ohne Ekstase, kann er die Ekstase der anderen nicht ertragen — die fremde Ekstase reißt ihn nicht mit, sie ist ihm sogar ein Ärgernis.

Ein Vergleich möge das verdeutlichen. Vor den Dresdener Umwälzungstagen 1849 leitete Richard Wagner gerade die Neunte. Da sprang am Ende der heimische Schürer des Aufstandes, der Anarchist Michael Bakunin, vor zum Orchester und schrie entflammt zu Wagner hinüber: ,,Wenn alle Musik beim grokn Weltbrand, der kommt, verlorengeht, dann wollen wir mit Gefahr unseres Lebens diese Symphonie retten." Bakunin war ganz Flamme. Anders Lenin. Man weiß von seinen Worten über die Apassionata: ,,Ich kenne nichts Schöneres als die Appassionata, ich könnte sie jeden Tag hören. Mit Stolz und vielleicht kindischer Naivität denke ich jedesmal, wenn ich diese Klänge vernehme, es sei doch wunderbar, was die Menschen vollbringen können. Aber ich kann Musik nicht oft hören, sie geht mir auf die Nerven. Ich möchte liebenswürdige Dummheiten reden und diesen Leuten die Köpfe streicheln, die inmitten einer schmutzigen Hölle solche Schönheiten schaffen können. Heute aber ist es nicht die Zeit, den Menschen die Köpfe zu streicheln —, heute fallen die Hände nieder, um die Schädel m spalten..." Lenin ist hier nüchtern. Stalin wäre auch zu solcher Halbekstase unfähig. Eine bezeichnende Kleinigkeit: Man behauptet, Lenin sei nach seiner langen Krankheit an Lungenlähmung gestorben — bei einer Körpertemperatur von 42,3 Grad. Hier drückt sich das Feurig-Luziferische in Lenin aus, im Gegensatz zum Kalt-Ahrimanischen in Stalin.

Ein solches Wesen ist von vornherein an einer entscheidenden Stelle mystisch verletzt, gefährdet. Die Sage von Kain und Abel träfe auf Stalin zu: Gott nahm das Opfer Abels an und wandte sich ab vom Opfer Kains. Warum? Die Sage gibt uns keinerlei Erklärung dafür. War etwa Kains Opfer nicht von Herzen gebracht ? Vielleicht hat er es gewollt, aber es blieb beim Wollen. Ais Erklärung bleibt uns nur eins: von Anbeginn an scheint Kain die Gnade des Lebens gefehlt m haben. Diese Vermutung steigt uns aus den Lettern der Genesis auf: hätte Jahwe das Opfer Abels nicht angenommen, hätte dann Abel den Brudermord wohl begangen? Nein. Wem die Lebensgnade fehlt, dessen Herz bleibt sanften Regungen verschlossen. Dies mochte der junge Ssosso Dschughaschwili schon früh dunkel und vielleicht auch erbittert gefühlt haben, wenn er etwa einen kranken Schulkameraden besuchte. Er scheint herzlich mit ihm zu reden, aber seine Worte berühren das Herz des Kranken nicht. Ein neuer Besuch tritt ein, ein anderer Kamerad, der liebkosend über die Stirn des Kranken streicht -und: der Schmerz ist gelindert.

Diese göttliche Kraft ist Lebensgnade. Wie sagt doch Gretchen? „Und seine Gegenwart schnürt mir das Innere zu. Wo er - Mephisto - nur mag zu uns treten, mein' ich sogar, ich liebe dich nicht mehr." Gretchens schlichtes Herz ahnt hier etwas: schon durch seine bloße Gegenwart vernichtet der Teufel die Liebe, zersetzt er ihre Atmosphäre. Das Lyrische fehlt ihm. Er vermöchte vielleicht viel schönere Gedichte zu schreiben als Rainer Maria Rilke - nur eines bliebe ihnen versagt: das ungreifbare, dichterische Strömen, das Rilkes Worte so gnaden-haft ausstrahlen. Hier ist ein Fluch verborgen.

Dichterischer Rausch hat das Herz Stalins nie durchschauert, obgleich er als Schüler im bischöflichen Chor mit samtweichem Alt sang. Aber dies war sicher die Stimme des gefallenen Engels, denn auch dieser Engel vermag noch bezaubernd zu singen. Stalin hat sogar versucht, m dichten — merkwürdig: patriotische Gedichte —, aber gleichzeitig trieb er Esperanto: er glaubte schon zu jener Zeit an eine Weltsprache, natürlich eine mechanisch konstruierte. Sichtlich quälte ihn die organische Vielfalt der Welt. Noch mehr: er konnte sogar das Leben selbst nicht ertragen. Er sehnte sich frevlerisch nach Zerstörung, um seinen vernichtenden Eigenwillen m erproben und durchzusetzen.

Der Nihilismus war dafür wie geschaffen. Wladimir Solowjeff, der große russische Denker und Mystiker, hatte die Bemühungen der russischen nihilistischen Intellektuellen in einem ironischen Satze msammengefaßt: Der Mensch stammt vom Affen ab, folglich - es lebe die Freiheit! Zwar ist hier ,,folglich" ein Unsinn: es ist kaum glaubhaft, daß die Abstammung vom Affen dem Menschen die Freiheit gewährleisten könne - aber die Logik wird oft von der Psychologie überrumpelt, und in diesem Spruche lagunbedingt psychologischer Spürsinn. Wenn es beweisbar wäre, daß der Mensch zum Affengeschlecht gehört, dann würden selbst die Auserwählten allen Reiz verlieren: Napoleon würde nichts Außerordentlicheres sein als ,,Irgend-einer" und Kleopatra nicht mehr als eine beliebige Frau. Mit dem Reiz würde auch die Ehrfurcht schwinden. Das war die Ansicht der Nihilisten Aber heimlich lag hier auch ein anderer Gedanke zugrunde: wenn der Mensch im Wesen dem Affen gleich war, dann konnte man die Lehre der Genesis, der Mensch sei das Ebenbild Gottes, als Irrturn entlarven und damit das Bild und Gleichnis Gottes vernichten. Hier war die Absicht der Nihilisten zwar mangelhaft begründet, um so hartfiäckiger aber hielten sie an ihr fest.

Auch Stalin verfiel dem Einfluß der Nihilisten und begann sich leidenschaftlich mit naturwissenschaftlichen Studien zu beschäftigen. Er glaubte fest, daß diese Studien ihn unbedingt zur Gottlosigkeit führen würden. Das war aber das Wesentliche: war Gott gestorben, so war die Freiheit gewonnen. Er machte sich nicht klar, daß ein von Gott getrennter, gottloser Mensch mit Gott zugleich auch für alle Ewigkeit die Verbundenheit mit dem Weltall verlieren mußte. Möglich, daß Stalin in seinem Unterbewußtsein gerade dies wollte. Zerstörte man die sakralen Beziehungen zwischen den Dingen, so gefährdete man das Leben selbst. Die Berechnung war richtig für denjenigen, den das Leben von Anfang an quälte. Er besaß ein scharfes Gedächtnis — keine Erinnerung! — und eine starke, kalte Logik. Er entfernte sich von Gott und richtete sich zu frevelhafter Selbstmacht auf. Er sah überall das Negative, und begegnete er der Auslese, so lächelte er spöttisch. Der Kaltblüter wurde grausam hart. Einmal in einer engen Gasse, erzählt man, trat er mit dem Fuß auf ein Küken. Das Küken brach ein Bein und flatterte schreiend davon. Stalin holte es ein und zertrat es gänzlich. ,,Da wirst sowieso nichts mehr taugen", rief er in seltsamem Jähzorn. Ln diesem Augenblick mag der Schatten eines ganz anderen, erschreckend fremden Gesichtes über seine Züge geglitten sein.

Dem Leben gegenüber war er feindlich eingestellt, und überall witterte er Feinde. Zum Niederringen des Feindes ist zweierlei nötig: Selbstbeherrschung und Ironie. Stalins Selbstbeherrschung glich derjenigen des Yoga, aber seine Ironie war unvergleichlich. Langsam, unbeweglich, leidenschaftslos reizte er den Gegner, hetzte, bespöttelte ihn, brachte ihn aus der Fassung. Durch Verleumdung und Erniedrigung vernichtete er seine Feinde. Darin war er unbarmherzig und grausig. Sein kaltgrinsendes Lächeln ging zeitweise in ein hartes, abgebrochenes Lachen über.

War er bösartig im gewöhnlichen Sinne? Nein. Er war weder ein Mörder noch ein Räuber noch irgendein anderer Verbrecher. Im Gegenteil: er wollte das Beste der Menschen, und dennoch - in seinem Charakter lebte von Anfang an ein fremdartig böser Keim. Begehrte er etwa persönliche Annehmlichkeiten? Durchaus nicht: die irdischen Freuden - Weib, Wein, Glücksspiel, Geld, Rausch - existierten für ihn nicht. Es ist bezeichnend, daß beim georgischen Gastmahl, wo immer Dionysos gefeiert wird, wenn alle andern berauscht waren, er allein nüchtern blieb. Er war freigebig, soweit er es nach seiner Art rechtfertigen konnte, und hilfsbereit als geistiger Wegweiser. Und doch war er mit keinem vertraut. Unfähig, das metaphysische ,,Du bist" zu sagen, hatte er keinen einzigen Freund, da einer auch als Freund für immer sein Untergebener bleiben mußte. Möglich, daß er selber in seinem tiefsten Innern darüber traurig war. Man könnte auch denken, daß ihn zuweilen sein eigener Charakter bedrückte. In solchen Augenblicken überschattete ihn vielleicht eine tiefe Schwermut. Es war aber kaum glaubhaft, daß er diese Schwermut, wenn auch nur für eine Sekunde, andern zeigen würde. Es war da immer etwas, das es ihm unmöglich machte, sein Herz zu öffnen.

Von der alten Welt hatte er schon Abschied genommen. Weder Blutsgemeinschaft noch Volk, weder Seelenbund noch Glaube existierten mehr für ihn. Das Volk wurde durch Masse ersetzt, die Seele aber durch Klasse. Hier war er in seinem Element. Für die Aufnahme der sozialistischen Idee war er durchaus reif. Die Lehre von Saint-Simon und Fourier konnte sein Herz nicht berühren, weil er nie irgendeiner Neigung zur Utopie und Romantik hörig war. Die Doktrin von Marx aber hatte sein Wesen im Zentrum getroffen: hier war Logik und Festigkeit, nicht die Rückgratschwäche ihrer menschewistischen Abwandlung. Stalin war zum Bolschewiken geboren. In vergangenen Zeiten sagte man wohl von jemandem, er sei ein vorchristlicher Christ. Stalin konnte man einen Bolschewiken vor dem Bolschewismus nennen. Aus dem damaligen Rußland kam die illegale marxistische Literatur auch nach Georgien, und plötzlich tauchten in ihr die Abhandlungen von Lenin auf. Stalin war gepackt: dies bedeutete für ihn ein tiefes und einmaliges Erlebnis, ein Sichselbstfinden, aber in einem andern. Hier war das, wonach Stalin mit seinem blinden Instinkt tastete, die Dämonie der marxistischen Idee. Was im Westen ,,Wort" war, sollte in Rdland „Tat" werden. Dies „Werden“ aber mußte wie ein wütender Wirbelsturm in die Welt hineinbrechen, die der Krieg in ihren Grundlagen schon erschüttert hatte.

Lenin erschien als die geballte Energie des Sturms. Als er mit seinen Genossen im plombierten Wagen das deutsche Gebiet durchquerte, m in Rußland das Feuer der Revolution zu schüren, ahnte die Menschheit nicht, was für vulkanische Kräfte hier gesammelt waren. Lenin erschien in Rußland als das Schicksal der Revolution, er wurde der kosmische Urheber des Oktoberumsturzes. Zwei Elemente waren in ihm — dem Halbrussen und Halbmongolen - vorhanden: das slawische und das mongolische; das slawische - der Atem des Chaos, die Verachtung jeder Grenze; das mongolische - die innere Schwermut und der Schwung in die Weite. Instinkt und Wille waren in Lenin eins. Angeboren und ausgebildet waren in ihm die Eigenschaften des meisterhaften Chirurgen: das richtige, unfehlbare Augenmaß; die Intuition, die die Mitte der Dinge trifft; Selbstbeherrschung, doch nicht die kalte, sondern die feurige; die untrüglich sichere Hand. Schon bei der persönlichen Begegnung spürte es jeder in seinem Wesen. Stalin hatte dies schon vor der Begegnung erspürt.

1903 erhielt er einen Brief von Lenin aus Europa. Dies bedeutete für ihn etwas wie den Empfang der mosaischen Tafeln. 1905 traf Stalin Lenin in Firnland auf der Parteikonferemz. Der große Revolutionär erkannte in dem schweigsamen Georgier den zuverlässigen Kämpfer. 1906 fand der Parteitag in Stockholm statt, auf dem die Bolschewiken eine Niederlage erlitten. Aber wie hatte Lenin es aufgenommen: ,,Jammert nicht, Genossen, wir werden bestimmt siegen, wir sind auf dem richtigen Wege." Unter seinen Anhängern war Stalin der einzige, der diese Worte nicht nur mit den Ohren hörte. 1907 auf dem Parteitag in London siegten die Bolschewiken. Wie hatte aber Lenin diesen Sieg aufgenommen? Stalin erinnerte sich dessen später: ,,Er wurde nach seinem Sieg besonders wachsam und vorsichtig" — und zitierte Lenins Worte: ,,Vor allem laßt euch nicht durch den Sieg fortreißen und werdet nicht großsprecherisch; zweitens, befestigt euren Sieg; drittens, erledigt euren Feind, denn er ist nur geschlagen, aber noch nicht tot." Am meisten mußten diese Worte Stalin berühren, der sich niemals im Siegesrausch befand und den geschlagenen Feind nie auf dem Schlachtfeld zurückließ, ohne ihn gänzlich zu erledigen. Bei den Sitzungen war Stalin wortkarg: er schwieg, ein wahrer Tatmensch.

Stalins Element war die Masse, hier war er echt. Von den finnischen Felsenufern bis zu den Gestaden von Kolchis fühlte er sich organisch eins mit den Massen. Er begegnete und näherte sich sowohl Russen, Polen, Ukrainern als auch Georgiern, Armeniern, Aserbeidschanern, Letten, Litauern, Juden und vielen anderen Volksangehörigen. Er lernte die noch schlummernde Psyche der Arbeiter kennen. Er prüfte den Pulsschlag der Massen und weckte ihren proletarischen Instinkt. Er klärte ihr Wollen und stählte ihren kämpferischen Willen. Er begegnete Tausenden und hatte aber Tausende Bekannte. Für ihn gab es keinen Freund — es gab nur unzählige Genossen. Er hinterließ der Ochrana keine Spur. Bei den Arbeitern aber blieb seine Spur unverwischbar. Er blieb auch hier im Schatten: in den Geheimorganisationen erschien er als der rätselhafte Namenlose der Massenpsyche. Es ist nicht verwunderlich, wenn er von Anfang an die Eigenart der russischen Revolution gefühlt hat. 1917, nach den Juli-Geschehnissen, tagte die Parteikonferenz. Lenin nahm nicht teil, weil er sich zu dieser Zeit verborgen hielt. Auch Trotzki war nicht anwesend: erst auf dieser Konferenz wurde er nun Mitglied des Zentralkomitees ernannt. Stalin leitete die Konferenz. Hier sprach er ein historisches Wort aus: ,,Die Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, daß Rußland vielleicht in ganz besonderem Maße das Land sein wird, das den Weg zum Sozialismus bereitet... Die Grundlage unserer Revolution ist breiter als im westlichen Europa, wo das Proletariat allein der Bourgeoisie gegenübersteht. Unsere Arbeiter werden durch die ärmste Schicht der Bauern unterstützt... Man muß die verächtliche Ansicht aufgeben, daß Europa allein uns den Weg zeigen kann..." In der Hörermasse der Konferenz rührte sich sicherlich der Zweifel, ob diese These mit dem dogmatischen Marxismus in Ubereinstmmung zu bringen sei. Stalin bemerkte es offenbar und fügte die Worte hinzu: ,,Ich bekenne mich zum schöpferischen Marxismus." Hier erschien er bereits in seiner künftigen Größe.

Auf Lenin hatte er schon bei der ersten Begegnung einen besonderen Eindruck gemacht: Lenin fühlte in diesem Revolutionär etwas Starkes und Zwingendes. 1914 wurde Stalin nach Turuchansk, Provinz Jenisseisk, verbannt. Im November dieses Jahres schreibt Lenin seinem Freunde Karpinski aus Genf: „Ich mufl Dich um einen großen Gefallen bitten: suche doch den letzten Namen des Koba herauszubekommen (Joseph Dsch ...), wir haben ihn vergessen. Es ist sehr wichtig." Stalin befand sich in der Verbannung unter seinem wirklichen Namen Dschughaschwili, und gerade dieses Namens konnte sich Lenin nicht entsinnen. Er erinnert sich hier Stalins und erinnert sich seiner auch wieder nicht: ein Empfinden von etwas Dunklem und Fremdem und zugleich anziehend Gegenwärtigem löst hier der ferne Georgier aus. Kurz vor der Oktober-Umwälzung wurde Lenin beschuldigt, deutscher Agent zu sein. Lenins Edelmut war empört: er beschloß, sich vor dem Gericht des damaligen Petrograder Sowjets zu rechtfertigen. Stalin spürte sogleich die Gefahr und überzeugte ihn, daß er nicht gehen dürfe. Möglich, daß dieser plötziiche Entschluß das Schicksal des Oktobers entschied. Nach der Umwälzung stand Stalin Schulter an Schulter mit LenU1, obwohl auch hier unsichtbar. Als Trotzki am 15. Februar 1918 aus Brest-Litowsk telegraphisch um weitere Instruktionen bat, antwortete Lenin: ,,Ich möchte mich erst mit Stalin besprechen, bevor ich auf Ihre Frage antworte." Wahrscheinlich hat Trotzki hier zum ersten Male gefühlt, mit wem er es in Zukunft zu tun haben würde.

Stalin glaubte nur an Lenin. Aber an der Seite Lenins wuchs eine zweite Gestalt empor - Trotzki. Wenn Lenin das Schicksal der Revolution war, so erschien Trotzki als ihr Halbschicksal - es gibt auch Halbschicksale. Das Genie war mehr in Lenin verkörpert, das Talent aber in Trotzki. Trotzkis Rede war ein Meisterwerk: sie gestaltete sich wie schäumende und wogende Wellen, die den Zuhörer in die Weite trugen. Lenins Wort war schlicht, einfach, ohne Pathos, aber prägnant, und wirkte stärker. Das Wort des einen berauschte, das Wort des andern lenkte. Trotzkis Stil war geschliffen: seit Marx hat keiner der Marxisten so gewandt geschrieben. Lenin hatte keinen Stil, seine Sätze waren verwickelt und beschwerlich, aber sie überzeugten den Leser mehr. Trotzki befaßte sich mit vielen Problemen außer den revolutionären, mit künstlerischen, literarischen, theatralischen. Lenin hatte nur ein Problem: den Sieg des Proletariats durch die Revolution. Wie das Einhorn suchte er mit geballter Willensanspannung nur einen einzigen Weg. Trotzki ging als Revolutionär Zickzackwege, manchmal auch Abwege. Vielleicht lag gerade hierin seine Halbschicksalhaftigkeit. Er hatte alles, um ein großer Revolutionär zu sein, es fehlte ihm jedoch die bolschewistische Psyche. Aber gibt es eine solche überhaupt ?

In den Evangelien wird Christus ,,Sohn Gottes" und ,,des Menschen Sohn" genannt. Der Sohn Gottes ist in dem modernen Menschen beinahe erstorben. Statt Logos waltet in ihm Ratio. Homo Sapiens hat sich zum Homo Technikus gewandelt. An ihm ist nur der Sohn des Menschen ganz geblieben, und seine göttliche Gabe, mehr als Mensch zu sein, ist gefährdet. Dadurch geschieht es, daß die mythenbildenden Kräfte, in denen allein die Gottessohnschaft sich fruchtend offenbart, ihre Wirkung verlieren. Dem die lebenzeugende Macht des Mythos bestätigt sich immer nur dort, wo in einem Phänomen noch das Urphänomen formend am Werke ist.

Ist der moderne Mensch seines Urphänomens noch bedußt? Kaum. Selber nur ,,Sohn des Menschen", das heißt nur Phänomen, behandelt er auch jede Erscheinung bloß als Phänomen. Die Erde ist für ihn nicht mehr die Magna Mater, sondern einfach eine geologische Realität. Vom Logos nicht mehr befruchtet, befruchtet er die Erde nicht mehr, er nutzt sie nur noch, er beutet sie aus. Er ist nicht mehr Gatte, er ist nur noch Gebieter: Bezwinger, nicht Erwecker. So steht es um Europa und Amerika. (Deutschland hat die Gefahr schon innigst erfaßt.)

Was geschieht nun im bolschewistischen Rußland? Dasselbe, was in Europa und Amerika sich als Folge der Technik ergab, nur mit dem Unterschied, daß dort diese Entwicklung mit Absicht gewollt und gefördert wird. Entzauberung der Welt, Ermordung der Erde als Mutterleib des Göttlichen — das ist es, wonach der bolschewistische Mensch besessen trachtet. In dieser Richtung gibt sich der historische Einsatz des bolschewistischen Machtwillens offen zu erkennen. Treffend bezeichnete einmal Lenin den Kommunismus als Elektrifizierung plus Sowjetmacht. In unsere Sprache übertragen heißt das: Amerikanismus plus Dämonie. Homo technikus wird hier zum Satan. Für Europa und Amerika bedeutet die Minderung der Logoskräfte im Menschen eine Tragödie von kosmischer Tragweite, für den bolschewistischen Menschen, den gottlosen, der innerlich den Logos haßt und jede Gottessohnschaft verabscheut, eine Feier orgiastischer Verneinung. Für Europa und Amerika ist die vorherrschende Ratio ein Fluch, für den bolschewistischen Menschen ein grimmiger Triumph. Der Europäer oder Amerikaner befnichtet die Erde nicht mehr und fühlt sich seiner vergangenen Glücke beraubt, der Bolschewik vergewaltigt die Erde, zerset ihr heiles Zellentum und feiert in der Kollektivierung des Bodens seine dämonische Allgewalt. Aber nun: während Europa und Amerika mit dem Logos auch die unteren Schichten des Seins - Ahnungen, Instinkte, Wurzeln - fast gänzlich verloren haben, sind merkwürdigerweise diese Schichten bei den Bolschewiken unerschöpflich vorhanden. Ein Rätsel, ein neues Thema für sich. Wm man aus dem Kopfe eines Indianers das Gottfeuer ausreißt und ihm statt dessen den Intellekt einpflanzt, bekommt man einen bolschewistischen Typus. Ratio und Tiersinn: eine bessere Verschmelzung für einen Revolutionär läßt sich nicht denken.

Lenin hatte diese Verschmelzung, Trotzki aber hatte sie nicht. Die Rassenpsyche eines Bolschewiken fehlte ihm. In seinem Testament hat Lenin unter seinen Nachfolgern Trotzki an erster Stelle genannt — merkwürdig aber, er fügte hinzu: Trotzki sei nicht Bolschewik gewesen.

Ein Geschehnis. Es war im Sommer 1923. Die Macht lag in den Händen des Triumvirats: Stalin, Kamenew und Sinoview. Lenin lag krank, Trotzki stand abseits: er beherrschte den Revolutionskriegsrat. Der Schatten Bonapartes ließ ihn nicht schlafen, und während der Krankheit Lenins gab ihm seine Stellung eine gefährliche Macht. Das Triumvirat hatte beschlossen, einige Mitglieder des Zentralkomitees in den Kriegsrat zu entsenden, darunter natürlich auch Stalin. Kein Zweifel bestand, daß der Urheber dieses Entwurfes Stalin war. Irn Herbst fand eine Sitzung des Plenums statt. Jene Frage wurde vorsichtig angeschnitten, in verschleierte Form. Stalin saß schweigsam harrend. Trotzki spürte sofort, daß es sich hier um eine Einschränkung seiner Kompetenzen handelte. Er erhitzte sich, wurde zornig, verlor das kalte Blut und die Selbstbeherrschung. Den eingebrachten Vorschlag faßte er als einen Beweis des Mißtrauens auf und wandte sich mit dem gewohnten Pathos an die Versammlung: ,,Befreien Sie mich von meinem Amt und lassen Sie mich nach Deutschland gehen als einen gemeinen Soldaten der Revolution." Das war schon zu weit geschossen: seine große Geste verfehlte das Ziel - obgleich seine Rede wie immer mächtig war: Trotzki sprühte Feuer. Die Mehrheit des Plenums wurde verwirrt. Plötzlich stand Sinoview auf 'lind - ob nachahmend oder hinterlistig, damit Trotzki seine Absicht bei diesem Vorschlage nicht merke, rief er aus: ,,Laß auch mich als Verschwörer nach Deutschland gehen!" Wenn Trotzkis Worte Feuer waren, so waren die des weibischen Sinoview pflaumenweich. Das Pathos wurde zur Humoreske. Da erhob sich langsam Stalin und erklärte, scheinbar betrübt: ,,Wie kann das Zentralkomitee das Leben dieser zwei wertvollen Genossen aufs Spiel setzen?" Aber Trotzki ließ sich nicht beruhigen und bestand auf seiner Forderung. Nun ergriff das Wort ein Leningrader Delegierter, Komaroff, und schleuderte plump dazwischen: ,,Warum macht Genosse Trotzki so viel Aufsehens von der Geschichte, und Sie, verehrte Chefs, tun sehr unrecht, sich wegen einer solchen Bagatelle aufzuregen!" Das traf Trotzki unerwartet: so weit war es schon gekommen, daß eine von ihm gestellte Frage von jemand wie Komaroff als Bagatelle hingestellt wurde ? Er sprang wütend auf. Man solle ihn, schrie er, aus der Zahl der Spieler dieses Stückes streichen — und: außer sich stürzte er zur Tür.

Trotzki hatte es immer mit der Tür. Es ist bekannt, was er theatralisch der kapitalistischen Welt zurief, als Sowjetland 1919 in höchster Gefahr stand: ,,Wir gehen! Aber wir werden die Tür auf eine Weise zuschlagen, da5 die Welt erschüttert wird!" Vielleicht dachte er an jene Phrase, als er sich jetzt hinausbegab. Er verließ das Plenum, das sichtlich verwirrt zurückblieb: damals war Trotzki noch ein großer Mann. Ein beklommenes Schweigen dehnte sich aus. Ein historischer Augenblick. Alle warteten auf etwas, wahrscheinlich auf das Zuwerfen der Tür. Trotzki ergriff sie, bestimmt in der Absicht, die Drohung von 1919 wenigstens im kleinen Maßstabe zu verwirklichen. Er vergaß aber, daß das Plenum irn Thronsaal des Kreml saß, dessen Tür so massiv war wie die ehemalige Dynastie der Romanoffs. Trotzki ergriff die Türklinke, aber siehe da: die Tür blieb unbeweglich. Er henkte sich daran, um sie aufzureißen — der Türflügel bewegte sich mit souveräner Langsamkeit. Das Plenum sah den kleinen Mann, hager, zappelig, der fürchterliche Bemühungen machte, diese unerbittliche Tür zu bewegen. Alle unterdrückten das Gelächter. Nur einer lächelte unter dem Schnurrbart. Trotzki verließ den Saal beschämt. Man wartete auf das Zuwerfen der Tür hinter ihm, aber ... die für die Geschichte bestimmte Geste erstarb an ihrer widerspenstigen Massigkeit. Der Mann, der unter dem Schnurrbart schweigend lächelte, war Stalin: ihm hätte so etwas schwerlich zustoßen können.

Stalin war von Anfang an ein Bruchstück Lenins. Auch in ihm findet man Ratio und Tiersinn vereinigt, nur mit dem Unterschied, daß das zweite Element bei ihm stärker entwickelt ist. Im Vergleich mit Lenin gibt das Stalin sogar einen Vorzug. Nit dem tierischen Instinkt fühlte er immer, daß der Halbschicksalhafte die Revolution nicht leiten könne. Er sah Trotzki dauernd schief an: er glaubte ihm nicht recht. Darin leitete ihn nicht Neid, sondern Witterung des echten Revolutionärs für ein Element, das nicht unmittelbar aus dem Schoße der Revolution geboren war. Am besten zeigte sich das im Falle Zarizins. Trotzki wollte in der Roten Armee die ehemaligen zaristischen Offiziere benutzen, Stalin aber haßte die Intellektuellen geradezu. Hier war der Zusammenstoß eines, der aus der Revolution, und des anderen, der zUr Revolution gekommen war. Lenin fühlte die Notwendigkeit beider und versöhnte die auseinandertreibenden Strömungen mit großer Meisterschaft. Er warnte Trotzki vor Bonapartismus durch Stalin und befreite Stalin von seiner engläufigen Geradlinigkeit durch Trotzki. Gleichwohl: hier entbrannte ein Kampf zweier fremdartiger, jeder Verschmelzung widerstehender Elemente, von denen eines sichtbar war, das andere aber unsichtbar.

Trotzki wuchs neben Lenin: der Halbschicksalhafte wurde hier Ganzschicksal. Ohne Lenin aber verlor er das, was man den schicksalhaften wagemut nennt. Trotzki war keine ängstliche Natur: in den Bürgerkriegen zeigte er dämonischen Mut. Die Errettung Petrograds vor dem Angriff des Generals Judenitsch war seine Tat. Der Mut hatte hier um so größeres Gewicht, als Lenin anfangs sogar bereit gewesen war, die Stadt dem Feinde preiszugeben: ihm drohten damals andere, noch bedeutendere Gefahren, und Lenin besaß außerdem Intuition nur dann, wenn er selbst in die Dinge eingedrungen war — die Fronten aber hatte er Trotzki überlassen. Trotzki überzeugte ihn von der Notwendigkeit, Petrograd zu halten, und er verteidigte es mit einem letzten, Übermenschlichen Wagemut. Und dennoch: hinter diesem Mut stand wie ein unerschütterlicher Felsen das ganz Schicksal - Lenin. Es genügte, daß Lenin einen Schlaganfall bekam, um Trotzki sofort den Mut verlieren zu lassen.

Der verhängnisvolle Wendepunkt der Revolution trat ein. An einer kleinen Tatsache scheiterte Trotzki, und das war gerade die georgische Frage. Ein Teil georgischer Kommunisten, unter der Leitung von Mdiwani, verlangte für Georgien eine größere nationale Freiheit. Gegen diese Forderung trat am schärfsten Stalin auf: der Vaterhasser mußte innerlich auch gegen das Vaterland eingenommen sein. Lenin merkte, daß Georgien ein äußerst eigenartiges Land sei, und er setzte sich für Mdiwanis Gruppe ein, obgleich vom rein kommunistischen Standpunkt aus hier vielleicht Stalins zentralistische Linie mehr berechtigt war... Möglich, daß hier auch etwas anderes mitwirkte. Nach dem Schlaganfall verstärkte sich bei Lenin, der bereits die Luft des Todes atmete, der Tiersinn. Das geschlagene Einhorn sah jetzt mit seinen kleinen und trüben Augen, daß die schweigsame und unscheinbare Katze, Stalin, zum Tiger emporwuchs. Er warf sich innerlich vor, daß er das bislang noch nicht gemerkt hatte. Er versuchte, sich aufzuraffen und mit einem kräftigen Ruf den Tiger mit dem drohenden Rachen wieder in seine Katzengestalt zurückzujagen — aber ... es war zu spät. Dies muß das bitterste Erlebnis Lenins gewesen sein... In der georgischen Frage stand Trotzki auf der Seite Lenins — es versteht sich: nicht aus Liebe zu Georgien. Der kranke Lenin bereitete einen Vortrag vor, der auf der zwölften Parteikonferenz als eine Bombe gegen Stalin einschlagen sollte - aber weil er die Wiederkehr eines Schlaganfalles fürchtete, vertraute er das ganze Material Trotzki an, und eine Kopie des Schreibens an Mdiwani schickte er Kamenew. Dies genügte, daß Stalin alles erfuhr. Er bereitete sich vor. Zuerst versuchte er Lenin zu überreden, aber die Kmpskaja widersprach ihm und stellte sich ihm in den Weg. Stalin muß hier die Frau des Führers tief beleidigt haben. Lenin wurde wütend und diktierte seiner Frau einen Brief an Stalin, worin er alle persönlichen Beziehungen zu seinem treuen Helfer abbrach. Das war der letzte Brief Lenins und zugleich der verhängnisvollste. Stalin wußte gut, was dieser Bruch mit Lenin bedeutete, und in seiner schweigsamen Zähigkeit bereitete er sich grimmig und düster zum Sprung vor. Trotzki rief Kamenew zu sich, berichtete ihm alles und verlangte, daß die Politik in der nationalen, in diesem Falle georgischen Frage geändert werde, und daß Stalin sich bei der Krupskaja entschuldige. Kamenew übermittelte dies Stalin. Stalin gab nach: er entschuldigte sich und schickte Kamenew nach Georgien, um dort die nationale Politik zu ändern. Innerlich aber verfinsterte er sich und war zu anderem bereit. Gerade zu dieser Zeit bekam Lenin den zweiten Schlaganfall. Stalin schickte Kamenew sofort eine Depesche nach. Kamenew war listig genug, zu verstehen, was er jetzt zu tun hatte, und als er nach Tifiis kam, stellte er sich auf die Seite Ordschonikidses, eines Anhängers der stalinischen Linie. Anstatt die Änderung der Stalins-Politik zu veranlassen, half er noch mit, sie zu befestigen.

So endete dieses kleine Zwischenspiel. Hier wurde bereits entschieden, wer in Zukunft siegen würde. Mit dem Schlaganfall Lenins hatte Trotzki seinen historischen Mut, die Macht des Amor Fati, verloren. Er begann unsicher zu werden. Er wußte nicht, daß in der georgischen Sprache ,,Schicksal", ,,Mut", ,,Glück" ein und dieselbe Wurzel haben. Stalin aber wußte es, und dies nicht nur dem Buchstaben nach, obwohl ihm für das Dritte - für das Glück — das Organ von jeher abgegangen war. Noch vor Lenins Ende wagte er, Lenin zu sein. Was nachher geschah, war nur noch die Entfaltung des Keims. Einiges aus der Chronik jener Zeit.

1923 fand die 12. Parteikonferenz statt. Lenins Schreiben bezüglich der georgischen Frage wurde nicht vorgelesen - Stalin erklärte einfach, Lenin habe aus Georgien unrichtige Auskünfte erhalten, und schlug der Konferenz seinen Beschluß vor, der dann auch ohne weiteres angenommen wurde. Merkwürdigerweise stimmte diesem Beschluß auch Trotzki zu. War das bereits ein Bruch in ihm? Er bekam es bei einer späteren Gelegenheit bitter zu schmecken. Auf der Sitzung der Komintern 1926 tauchte wieder jene Frage auf. Stalin äußerte selbstsicher und gelassen - (Lenin war schon tot): Lenin sei damals krank und deshalb außerstande gewesen, sich in die georgischen Angelegenheiten zu vertiefen. Hinsichtlich Mdiwanis sagte er weiter: ,,Ich verfolgte Mdiwani? Ja - aber spätere Tatsachen haben bewiesen, daß die sogenannten Abweichungen von der Art Mdiwanis in Wirklichkeit eine viel strengere Behandlung verdient hätten, als ich sie, in meiner Eigenschaft als Sekretär des Zentralkomitees, angewandt habe." Zum Schluß erwähnte er noch mit verstecktem Lächeln, daß Genosse Trotzki ebenfalls jenem Beschluß auf der 1z. Parteikonferenz seine Einwilligung nicht versagt hätte. Trotzki mußte diesen Hinweis mit schweigendem Ärger hinunterschlucken.

Es begann nun die andauernde Isolierung Trotzkis. Stalin ließ gegen ihn die ganze revolutionäre Garde los: Sinowiew, Kamenew, Kalinin, Bucharin, Tomski. Der Feldherr selber blieb im Schatten: für den Erfolg vielleicht besser. Man entdeckte sofort ,,Trotzkismus" im Gegensatz zu ,,Leninismus“, und schon war das Schlagwort fertig: Nieder mit dem Trotzkismus.

Stalin fühlte sich nun gesichert. Ihn beunruhigte nur, daß er in Lenins Testament scharf charakterisiert war. Lenin spürte dunkel, daß Stalin als Generalsekretär der Partei der Revolution zum Verhängnis werden könnte. Das war im Testament nicht direkt zum Ausdruck gebracht, man fühlte es aber — vor allem Stalin selbst - zwischen Wort und Zeile. Stalin witterte Gefahr, Wie ihr aber entweichen ? Es gelang ihm, zu verhindern, daß das Testament auch auf der 13. Parteikonferenz m Verlesung kam. Oberall jedoch sprach man heimlich davon. Da entschloß Stalin sich zu einem Manöver: während der Sitzung des neuerwählten Zentralkomitees las er das Testament selber vor. In der intimeren Atmosphäre des Komitees wirkte es nämlich als Hingabe und Wagnis. Er zitierte die Charakteristik seiner Person aus dem Testament ruhig und fragte ganz schlicht: Ich grob? Zugegeben. Ich bin aber grob nur mit denjenigen, die den Parteiwillen nicht wahren (das war fast aufrichtig) und fügte hinzu: Wem aber die Partei mich als Sekretär entlassen will, bitte! (Das war bestimmt die Falle.) Dieser gewiegte Schachzug glückte. Das ,,Erbieten“ abzudanken wurde abgelehnt : war doch die Mehrheit von Kamenew und Sinowiew bereits entsprechend vorbearbeitet. Stalin siegte jetzt über das Testament Lenins. Der Einfluß Trotzkis innerhalb der Parteischichten begann zu sinken. 1925 veröffentlichte er ein Buch über ,,Oktober“, worin Sinowiew und Karnenew als Feiglinge, die den Oktoberumsturz nicht mitgemacht haben, vernichtend charakterisiert \nirden. Im Kampf gegen Trotzki erschien Stalin dieses Buch als ein kostbarer Fund. Kamenew und Sinowiew mußten sich jetzt mit erbittertem Eifer bemühen, Trotzki vollständig zu erledigen. Sie suchten seine früheren ,,Sünden“ aufzudecken, seine Konflikte mit Lenin und vieles andere. Sie führten den Kampf blutrünstig — Stalin rieb sich vor Freude die Hände. 1925 wurde Trotzki von seinem Amt als Kriegskommissar ,,befreit“ Dadurch verlor er die letzte Position, von der aus er noch einen Staatsstreich hätte durchführen können. Trotzki war niedergeschlagen. Im Kampf der beiden Dämonen hatte, wie immer, Ahrirnan, die Ausgeburt des Hasses, den Halbluzifer besiegt.

Nun erkannten Kamenew und Sinowiew, daß sie einfach Werkzeuge in den Händen Stalins gewesen waren. Aber zu spät. Sie sahen jetzt ein, daß sie gerade den Mann geschlagen hatten, der einzig Stalin verdrängen konnte. Sie schlossen das Bündnis mit Trotzki gegen Stalin. Trotzki war aber nicht mehr der Trotzki, der er früher war: ein Renner, dem sich einmal die Adern verkrampften, taugt — nach einem georgischen Spruch - nichts mehr. Und außerdem machte es überall schlechten Eindruck, als man Kamenew und Sinowiew plötzlich auf der Seite Trotzkis sah, nachdem sie kaum ihren Kampf gegen ihn beendet hatten. Stalin nützte diese Stimmung gewiß sehr geschickt aus. Sinowiew und Kamenew erklärten ihren früheren Kampf gegen Trotzki als Mißverständnis oder als Fehler. Das verschlechterte den Eindruck noch mehr.

Die Opposition gegen Stalin gab trotzdem nicht nach. 1926 führte sie den Angriff gegen Stalins Ansicht, daß es möglich sei, in einem einzelnen Lande den Sozialismus zu verwirklichen. Stalin verteidigte sich hartnäckig. Es setzte auf beiden Seiten eine wahre Oberschwernmung von Zitaten aus Marx, Engels und meistenteils aus Lenin ein. Beide Parteien sahen nicht, daß man mit Zitaten eigentlich alles beweisen kann. Die Opposition hatte außerdem noch vergessen, daß man Macht nicht mit Zitaten schmiedet — und es geschah, was zu erwarten war: am 16. Oktober desselben Jahres beugten sich Trotzki, Sinowiew, Kamenew, Pjatakoff, Sokolnikoff, Ewdokimoff. Sie erklärten, daß sie sich dem Mehrheitswillen der Partei fügen, sich aber die Möglichkeit vorbehalten wollten, ihre Ansichten im Rahmen der Partei weiter zu verteidigen. Das war schon kollektive Niederlage. Die Opposition sah nicht, daß der Ausdruck ,im Rahmen der Partei" eigentlich ,,in den Händen Stalins" bedeutete. Das war um so überraschender, als sie die Härte dieser Hände bereits aus eigener Erfahrung kannte. Sie bekam neuerdings diese Härte zu spüren: auf der nächsten Sitzung des Zentralkomitees wurden Trotzki und Kamenew aus dem Politbüro ausgeschlossen und Sinowiew als Leiter der Komintern seines Amtes enthoben. Die Opposition aber wollte auch jetzt noch nicht kapitulieren. Sie trug den Kampf in die Komintern. Sie vergaß dabei wiederum, daß die Komintern einfach dem Zentralkomitee ausgeliefert ist, und wurde abermals schmachvoII besiegt. Besonders Kamenew erlitt hier eine Niederlage, die er sicherlich seitdem nicht vergessen hat. Inmitten der Diskussion träufelte Stalin — scheinbar arglos nebenbei - mit ätzender Ironie in seine Rede ein: Ich spreche von Gegenschlag. Fast unmerklich war angedeutet, daß die Mehrheit auf seiten Stalins stehe. Noch unmerklicher - dass Trotzki erst bei der Nähe des imaginären Feindes den Mut aufbringe, um dann vor allem diese Mehrheit in ihrer Verwirrung zu überrumpeln. Die Hauptsache aber war jene Einschaltung — dieser unser Clkmenceau, dieser Operetten-Clkmenceau. Wie immer bei Zusammenstößen der Revolutionäre ein gewagt-gelungems Wort zum Schicksal wird — so wirkte auch dieser Ruf wie ein Fanal. Trotzki - Operetten-Clkmenceau ? Das kam so unerwartet wie vernichtend. Wieder mußte sich die Opposition geschlagen geben. I927 feierte man das zehnjährige Jubiläum der Oktoberumwälzung. Die Opposition versuchte noch einmal aufmtreten: sie veranstaltete in kningrad und Moskau Massenkundgebungen gegen die Zentralleitung. Sie vergaß aber, daß die UdSSR nicht mehr das zaristische Rußland war, wo im Kampfe gegen den Gegner solche Mittel noch Sinn und Wirkung hatten. Als Folge ergab sich jetzt nur, daß Trotzki und Sinowiew aus der Partei ausgeschlossen wurden. Das gleiche Schicksal traf auf der I5. Parteikonferenz: Rakowski, Radek, Pjatakoff, Kamenew. Bald aber kam über Kamenew und Sinowiew die Reue. Stalin bestimmte für beide, wie für unverbesserliche Schüler, eine Prüfungsfrist. Das war nicht nur politischer Tod - das war auch Schmach.

So erledigte Stalin die Opposition von links. Einiges aber, was die Linken forderten, fand Stalin insgeheim richtig und begann es nun in die Tat umzusetzen. So forderte er den unerbittlichen Kampf gegen den Kulaken, den vermögenden Bauern. Jetzt entstand die Opposition von rechts. Sie besaß aber weder die Stärke, noch die Gewandtheit, noch die Ausdauer der Linken, und sie zu brechen war für Stalin nur ein Spaß. Er machte sich auf einer Konferenz sogar lustig über die Führer dieser Opposition - Rykoff, Bucharin, Tomski. ,,Sie leiden an derselben Krankheit - sagte er - ,,wie Belikoff, der bekannte Held bei Tschechoff, der Lehrer der griechischen Sprache. Dieser ging, wie Sie wissen, immer in Oberschuhen, in einem wattierten Mantel und mit einem Regenschirm herum, bei warmem wie bei kaltem Wetter." ,,Warum gehen Sie in dieser Julihitze in Oberschuhen und im Wintemantel?" fragte man Belikoff, und er antwortete: ,,Man kann nie wissen, es könnte etwas geschehen ... es könnte plötzlich Frost eintretem ... was soll ich dann anfangen ?..." Er fürchtete sich vor allem Neuen, vor allem, was aus dem gewohnten, eintönigen Leben herausfiel. Ein neues Restaurant wurde eröffnet, und Belikoff befand sich in Unruhe: ,,Sehr schön, ein Restaurant zu haben, aber wenn dann nur nichts passiert ..." Ein literarischer Verein wurde gegründet, ein Lesezirnmer geschaffen, Belikoff bekam wieder Angst: ,,Ein literarischer Verein, ein neues Lesezimmer — wozu nur? Geben Sie acht, da passiert etwas ..." Stalin führte Vorkommnisse aus der Tätigkeit Rykoffs, Bucharins und Tomskis auf -und sie erschienen den zahllosen Zuhörern alle drei in der Rolle dieses lächerlichen Lehrers der griechischen Sprache. Allgemeines, unaufhörliches GeIächter ging durch den ganzen Saal der Konferenz.

Zu dieser Zeit war Stalin schon Diktator.

Es vergingen Tage, Wochen, Monate, Jahre. Die oppositionellen Gruppen von rechts und links griffen Stalin an. Stalin, vielseitig erfahren, siegte immer. Die Besiegten beugten sich und knieten vor ihm und bereuten ihre Sünden. Alle staunten über die Siege dieses ,,sagenhaften Georgiers" und prüften nachträglich aufmerksam diesen von Lenin erfundenen Beinamen. Sie staunten und begriffen nicht: wie? woher kam diese Gewalt des wilden und groben Kaukasiers? Sie wußten nicht, daß in Stalins bolschewistischer Psyche die unerschöpflichen tierischen Sinne die Ratio nährten, und da6 für den Sieg gerade dies entscheidend war. Sieg folgte auf Sieg, und Stalin wuchs von Tag zu Tag, und keine Kraft konnte ihn überwachsen. In der mythenlosen Zeit tauchte plötzlich im ehemaligen russischen Reiche ein Mann auf von einer unerhörten totemistischen Kraft.

Das Schicksal der Revolution, Lenin, liegt im Grabe, einbalsamiert, der Mythos eines neuen Pharao. Der Kämpfer für die Revolution, Trotzki, schreibt, ausgewiesen, an den Ufern des Bosporus oder anderswo Memoiren. Das Steuer der Revolution ist in Stalins Händen. Er sitzt im Kreml wie ein Mensch gewordener Radloempfänger. Aus allen Enden des Sowjetlandes empfängt er zahllose Wellen. Er ist aber nicht nur ihr Empfänger, sondern auch ihr Schöpfer und Richter. Mit einem Erlaß bändigte er vor einigen Jahren die Kollektivierung des Landes, als die ,,Erfolge" den Allzueifrigen zu Kopfe stiegen und fast zur Katastrophe führten. Im Verlaufe von 18 Jahren war er ohne Unterbrechung in die molekularen Vorgänge der Arbeitermassen eingetaucht — selbst ein seltsames Molekül -, und kein Molekül blieb von ihm unberührt. Die andern Mitkämpfer lebten vor der Revolution von Rußland entfernt: sie verfolgten die russische Entwicklung von Europa aus in ernigrantischen Mansarden. Stalin aber lebte immer irn Wirbelsturm der Arbeitermassen, ein unscheinbares, aber tätiges Element. In früheren Zeiten sammelte sich im Häuptling einer Sippe die Stamrneskraft, in Stalin akkumulierte sich die proletarische Energie, und als die Revolution sich siegreich entfaltete, tauchte er auf: er wurde ihr Verkörperer. Er ist kein Mensch mehr, er ist ein Wesen oder Unwesen, ein furchtbares und grausames.

Manche verglichen ihn mit Dschinghis-Khan und Thimur. Der Vergleich hinkt: die mongolischen Eroberer hatten Feuer und Schwung und Wahngefühle. Stalin aber hat kein Feuer, er ist Kaltblüter. In irgendeiner Weise hat das sogar seine Kraft vermehrt. Nietzsches Wort über die Reife des Genies — „den Ernst wieder gefunden haben, den man als Kind hatte beim Spiel" — paßt auf Stalin nicht. Er hat diesen Ernst nicht, ihm fehlte sogar im Kindesalter die Kindheit. Er ist von Anfang an durch etwas beschwert und liebt kein Spiel. Frei von jederlei Komplexen und Hemmungen wirkt er wie eine Naturkraft, blind und gewaltig.

Man schreibt ihm zu, er sei neidisch, und erzählt folgendes. Für die Errettung Petrograds hatte das Politbüro Trotzki den Orden des ,,Roten Banners" verliehen. Plötzlich hatte Kamenew vorgeschlagen, daß ein solcher Orden auch Stalin zukäme. „Wofür?" schrie erstaunt Kalinin. Buchann erklärte es: „Verstehen Sie nicht? Dies ist ein Gedanke Lenins. Stalin kann es nicht vertragen, wenn er das nicht auch bekommt, was ein anderer hat. Er vergibt so was nie." Man erinnert sich daran und merkt nicht, daß hier, wenn das Erzählte stimmt, Lenins Menschenkenntnis versagt hatte. Stalin kann nicht neidisch sein. Zwar ist ihm die Auserwähltheit des andern unerträglich, doch nicht deshalb, weil er etwa gewünscht hätte, selber auserwählt zu sein. Er kann überhaupt Auserwähltheit nicht ertragen, sei es die eigene oder die eines andern. Sich auserwählt zu fühlen, ist die Gabe des Rausches. In Stalin aber hat Dionysos auch im übertragendsten Sinne nie gelebt. Übrigens ist diese Eigenschaft ein Panzer für die Erhaltung seiner Macht. Er kennt keinen Siegerrausch.

Alle staunen über Stalins Askese, bewundern es, daß ihn die sinnlichen Freuden nicht locken, weder Frau noch Spiel noch Wein. Man merkt aber nicht, daß Stalin überhaupt keiner Askese bedarf: für solche Dinge fehlt ihm einfach das Organ. Man muß lieben, um Freude zu fühlen - bis zur Selbstvergessenheit. Stalin aber vergißt sich selbst nie, und die Worte Dostojewskijs über die Hölle - obgleich Stalin weder an Hölle noch Paradies glaubt und jeden Götterglauben ebenso wie Lenin für Beischlaf mit einer Leiche hält —, diese Worte: „sie (die Hölle) ist der Schmerz darüber, daß man nicht mehr zu lieben vermag", müssen ihm am meisten zu denken geben. Ihm fehlt die Gabe der Liebe. Hier klafft die tiefste Leere seiner abgründigen Schwermut, die hinter der undurchdringlichen Maske seines Tätertums im Verborgenen bleibt.

Stalin sitzt, verzehrt von Tätigkeit, im Kreml, ein Machthaber, aber kein Herrscher, die Kernzelle der revolutionären Kräfte, ein Wesen und kein Mensch — ehe Stromleitung mit der warnenden Aufschrift ,,Lebensgefahr". Sogar das Telefongespräch mit ihm bedrückt alle. Gegen seine gefahrdrohenden Wirkungen ist niemand gefeit. Voll grausamer Strömungen ragt er unbesiegbar empor, wie das kalte und blinde Schicksal des Sowjetlandes und nelleicht der ganzen Welt. Wenn der geheime Steckkontakt einmal umgeschaltet ist, wenn er, der Unerschütterliche, zeitweise aus dem Netz der Strömungen herauskriecht - entrückt und sich selber fremd, wenn er ängstlich spürt, wie alle Kraft von ihm wegebbt -, dann ist Stalin nur Sosso Dschughaschwili, ein einfacher Georgier. Dann erinnert er sich des fernen Georgiens, von dem er nur dies behält: den Geschmack des Speisegerichts ,,Saziwi“, den kachischen Wein, den Gesang des ,,Mrawal-Scharnier" und den georgischen Fluch: ,,Magathi deda ki watire": Ich werde ihre Mütter weinen machen!



back